Dienstag, 17. Februar 2015

Hashtag-Journalismus und die inszenierte Twitter-Öffentlichkeit

Dies ist ein Gastbeitrag von Dr. Mathias König und Dr. Wolfgang König von der Universität Koblenz-Landau. Sie sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik sowie am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau.

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Alle reden von Twitter – zumindest Politiker und Journalisten. Nirgendwo sonst scheint die Netz-Öffentlichkeit so präsent wie bei Twitter, dem Microbloggingdienst aus San Francisco. Die Twitter-Euphorie begann als massenmedialer Hype in Deutschland spätestens mit dem „Hashtag Aufschrei“ (kurz: #Aufschrei) zum FDP-Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl 2013 Rainer Brüderle. Brüderle war wegen seines Frauenbildes einem sogenannten „Shitstorm“ auf Twitter ausgesetzt. Die Medienbranche zeichnete diesen #Aufschrei mit dem „Grimme Online Award“ aus. Die kritische – oder aufgeregte – Öffentlichkeit schien auf Twitter aktiv zu sein, wie nie zuvor.

Twitter wird seither zunehmend als Indikator für Modernität massenmedial inszeniert und der Zuschauer oder Leser ermuntert, mitzumachen: Mit Tweets zur Weltmeisterschaft, zu TV-Sendungen wie Kochprofis und besonders zu politischen Themen. Auf Twitter wird das Ideal der Meinungsfreiheit in seiner digitalen Variante verwirklicht, so die Idee.

Für den Journalismus besonders praktisch ist der dabei entstehende „Gratis-Content“. Überspitzt formuliert: Der Praktikant, der bisher auf dem Marktplatz Bürgerstimmen einfangen musste, kann eingespart werden. In seine Rolle schlüpft der zur Twitternutzung motivierte „moderne“ Zuschauer oder Leser.

Besonders die öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten setzen auf Twitter. Im „Bericht der ARD über die Erfüllung ihres Auftrags, über die Qualität und Quantität ihrer Telemedienangebote sowie über die geplanten Schwerpunkte“ (.pdf) heißt es u.a. hierzu:
  1. Im Berichtszeitraum haben viele Redaktionen Twitterzugänge für ihre Programme eingerichtet, um ausgewählte Inhalte anzubieten oder auf die Programme hinzuweisen, um die Nutzergruppen dort abzuholen, wo sie sich schwerpunktmäßig befinden.
  2. Für Sendungen der ARD werden Social Networks genutzt, um Inhalte besser den verschiedenen Nutzergruppen anbieten zu können. Erfolgreich ist dies besonders bei „Tatort“-Fans.
  3. „Online gelingt es tagesschau.de durch den Einsatz des neuen Social-Viewing-Tools, moderierte Nutzerkommentare über Twitter, Facebook und Kommentare aus dem eigenen Angebot mit dem Livestream der Wahlsendung zu verknüpfen und quasi live zu senden. Auch dieses Angebot war bei den Nutzern sehr erfolgreich und soll nun bei jeder Wahl eingesetzt werden.“

Zusammenfassend wird eine scheinbare Modernität postuliert und mit einem bürgernahen Hashtag-Journalismus verbunden. Die Frage ist dabei, ob dies wirklich zutreffend ist. Mit anderen Worten: Gibt es wirklich die aktive Twitter-Öffentlichkeit, in der das Ideal von Deliberation möglich ist? Hierzu werden drei Fälle skizzierend dargestellt (Datenbasis=Twitter API). Es handelt sich bei allen Fällen um Hashtags, die crossmedial auf einen singulären Anlass hin Aufmerksamkeit fanden. (Die Analyse fokussiert aufgrund der Forschungsfrage folglich diese Hashtagsorte).

GroKo und der SPD-Mitgliederentscheid (Dezember 2013)


Mag man dem Medienecho glauben, dann wurde Ende 2013 besonders intensiv auf Twitter über das Zustandekommen der „GroKo“ diskutiert. Das Wort „GroKo“ ist in den Medien präsent und steht für die zunehmende Verschmelzung der digitalen mit der Offline-Öffentlichkeit. So sah es die Gesellschaft für deutsche Sprache in ihrer Begründung für das „Wort des Jahres“ am 12. Dezember 2013. Das Web 2.0 und besonders Twitter schien der zentrale Ort der politischen Diskussion: „Es ist ein #GroKo-Deal … und während sich die Verhandlungspartner kurz ausruhen, wird das Ergebnis im Netz seziert“ (sueddeutsche.de).

Eine Machtoption gab es für die SPD nur mit Merkel und so sollten die SPD-Mitglieder entscheiden und diskutieren – ein einmaliger Vorgang in der deutschen Parteiengeschichte. Twitter hätte bedeutsam sein können, weil die Politik-Profis (mit Twitter-Account) direkt erreicht werden können. Gleiches gilt für die Journalisten. Mit anderen Worten sind die politischen Entscheidungseliten und Meinungspfleger sehr leicht erreichbar.

Balkendiagramme
Infografik über gesendete Tweets zum Hashtag #GroKo
Im Gegensatz zum massenmedialen Hype zeigt eine Analyse der Twitterdaten allerdings ein anderes Bild. Im Zeitraum vom 6. Dezember 2013 bis Anfang Januar 2014 wurden kontinuierlich die Suchergebnisse zu den entsprechenden Hashtags in Twitter abgerufen. Der Zeitraum wurde so gewählt, dass die Diskussion zum SPD-Mitgliederentscheid und die Vereidigung der GroKo erfasst werden konnte. Es zeigt sich, dass weniger als 5000 Nutzer an der Diskussion zum SPD-Mitgliederentscheid und der GroKo beteiligt waren.

Screenshots tagesschau.de & Tweets zum SPD-Mitgliedervotum
Von über 99 Prozent dieser Nutzer waren nur maximal zwei Nachrichten in der Twitter-Suche gespeichert. Von einer regen und breiten Diskussion kann folglich nicht die Rede sein. Aktiv sind vor allem die etablierten „Offline-Pfleger“ der öffentlichen Meinung und besonders auffällig ist der Twitter-Account der Tagesschau. Er ist auf Platz 27 bei den aktivsten Twitter-Nutzern und auf Platz eins bei der Resonanz. Die Strategie der ARD ist folglich erfolgreich (vgl. oben Punkt 3 der ARD-Strategie). Die Twitter-Kommunikation lässt sich als Reaktion der Offline-Ereignisse charakterisieren. Maßgeblich ist die Agenda der Medienberichterstattung und der Verfahrensregie zum Mitgliederentscheid. Die Tageschau beatmet notfalls auch die Diskussion und inszeniert Nachrichtenwert, indem z.B. so getan wird, als sei das SPD-Mitgliedervotum gescheitert (siehe Screenshot). Interessanterweise trifft der „Shitstorm“ nach dem positiven Ausgang des Mitgliederentscheids vorrangig die SPD als Organisation und nicht den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel. Mit Verkündung des Mitgliedervotums profitiert der SPD-Chef. Dies korrespondiert mit der Journalistenmeinung: „Porträt Gabriel: Der starke Mann der SPD …“ (Tagesschau-Tweet). So scheint sich zumindest das SPD-Spitzenpersonal durch den Mitgliederentscheid im digitalen cross-over eine personalisierende Legitimationsbeschaffung zu generieren, von der die SPD als Gesamtorganisation nicht profitiert.

Landesparteitage der CDU und SPD in Rheinland-Pfalz (im November 2014)

 

Tweets zum CDU-Parteitag
Tweets zum SPD-Parteitag
Neben dem „Megathema“ GroKo ist interessant, wie die Twitter-Kommunikation an Parteitagen aussieht. In Zusammenarbeit mit der „Rheinpfalz am Sonntag“ wurden die Landesparteitage von CDU und SPD im Bundesland Rheinland-Pfalz analysiert. Am jeweiligen Parteitag war der entsprechende Redakteur vor Ort und twitterte mit. Er konnte die quantitativen Daten qualitativ einordnen und bestätigen. Der Befund dieser Methodentriangulation lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Trotz Einblenden der Tweets auf einer Leinwand während des CDU-Parteitages (29. November, #lpt14) waren es nur 160 Personen, die twitterten. Bei der regierenden SPD (14. November, #rlpt14) waren es immerhin 240. Interessant ist hierbei das Ergebnis der so genannten Politwi.de-„Trends“ (Politische Hashtags, die zu einem bestimmten Zeitpunkt am meisten getwittert werden ). So war der SPD-Parteitag #rlpt14 bei Politiwi.de, einem Analyse-Dienst für politische Tweets, zeitweise als politischer „Top-1-Trend“ gelistet. Zugespitzt: Trotz Top-1-Trend war de facto nicht viel los. Es dominieren die institutionalisierten Nutzer @SPDRLP und @CDURLP sowie Journalisten.

Tatort (im November 2014)


Tweets zu #Tatort
Bei #Tatort geht es nicht um Politik, sondern nur um Unterhaltung. Er ist nach Darstellung der ARD auch der erfolgreichste Hashtag des Senders. Zusätzlich werden die Kommentare der Zuschauer im ARD-Teletwitter (Videotext Seite 777) eingeblendet. So ist beim Tatort auf den ersten Blick richtig viel los: Am 23. November schauten 10,4 Millionen Menschen den Tatort. Aber nur ca. 3000 Personen twitterten mit. Dies sind nicht einmal 0,3 Promille der Zuschauer. Der Twitter-Account des Tatorts ist selbst der aktivste Nutzer mit 187 Tweets, danach führt der Stern mit 71 Tweets die aktivsten Nutzer an.



Die gesellschaftliche Relevanz der Twitter-Öffentlichkeit


Zusammengefasst haben die üblichen Öffentlichkeitsakteure das meiste Gewicht im Kommunikationsprozess der drei ausgewählten Fälle. Allerdings können auch Privatbürger leichter Gehör finden, denn überspitzt formuliert hat bei Twitter jeder einen „Balkon“, um zum Volke zu sprechen. Dies erhöht auf den ersten Blick die individuellen Teilhabechancen. Die Gefahr, dass aber die Galerie leer bleibt, ist groß.

Erfolgreich sind in Twitter vor allem etablierte Multiplikatoren und „Kommunikationsprofis“.
Es deutet sich zudem an, dass sich die Trennung im Journalismus von Online und Offline in der Auflösung befindet. Wer Resonanz in Twitter und vor allem auch darüber hinaus erreichen möchte, muss in der Regel über die etablierten Medienakteure spielen.

So bleibt die Forderung an einen „reflektierten“ Journalismus, der Twitter nicht nur dankbar als beliebig moderierbaren „Gratis-Content“ begreift, sondern die digitale Öffentlichkeit kritisch analysierend bewertet. Dazu gehört vor allem dem Publikum „reinen Wein“ einzuschenken und das stilisieren von Twitter selbstkritisch zu hinterfragen: Es gilt die Naivitätsbrille abzusetzen und den Informations-, Beteiligungs- und Mitmachmythos als Illusion der Medienmacher zu „enttarnen“. Denn Twitter ist nach wie vor eine Plattform für Profis und nicht für den „Normalbürger“.

Zudem ist bisher nicht reflektiert worden, dass Twitter selbst ein Gatekeeper ist bzw. wird. Das bedeutet, dass nicht alle Tweets in der Twitter-Suche gespeichert bleiben. Hier ein Beispiel: Für Bahnfahrer war im vergangenen Herbst #gdl (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer) besonders „spannend“. Streiken die Lockführer? Und wenn ja, wann? Während der Internet-Browser offen war, tauchten in der Suche (Option alle Tweets anzeigen aktiviert) teilweise nur ganz kurz Meldungen zur GDL auf, die dann sofort wieder verschwanden. Sie flackern nur ca. eine Sekunde lang auf. Andere Tweets blieben aber nach wie vor in der Suche permanent sichtbar. Dabei war für den Bobachter inhaltlich nicht erkennbar, warum Twitter einige Nachrichten entfernte. Es ging inhaltlich in der Regel um den drohenden Bahnstreik. Verschiedenste Nutzer wurden aus der Suche binnen Sekunden gelöscht. Auch bei den untersuchten Parteitagen ließ sich technisch nachweisen, dass bestimmte Tweets von Twitter teilweise weggefiltert wurden. Dies betraf auch Medienvertreter.

Auf diese Gatekeeper-Problematik müssten die Journalisten bzw. Medien ihre Zuschauer/Leser hinweisen, wenn man die Twitter-Nutzung gezielt bewirbt. Twitter selbst versteckt seine Gatekeeper-Regeln lediglich „apokryph“ in den Hilfen für Entwickler. [1] Es ist eben nicht so, dass wirklich offene Redegleichheit herrscht. Premiumnutzer kaufen z.B. einfach Trends. So sollte die ideale politische Öffentlichkeit im Web 2.0 nicht aussehen. Besonders fragwürdig erscheint dann, dass vor allem die öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten Twitter „pushen“, anstatt kritisch nach den Folgen zu fragen, wenn die digitale Öffentlichkeit z.B. am Wahltag „gekauft“ werden kann. So wird der Zuschauer z.B. nicht auf das „Filtern“ durch Twitter auf den entsprechenden Seiten der ARD hingewiesen. Ist Twitter wirklich der Heilsbringer, oder nur die Illusion, die insbesondere Medien selbst geschaffen haben, um modern zu wirken? Meinungsfreiheit bzw. die Chance, dass andere die eigene Meinung auf Twitter überhaupt finden, ist nicht garantiert. Die Etablierung einer digitalen res publica kann empirisch anhand der Fallbeispiele in Frage gestellt werden.


Autoren

Dr. Mathias König
Dr. Wolfgang König
Dr. Mathias König und Dr. Wolfgang König beschäftigen sich in ihrer Forschung u.a. mit Bürgerbeteiligung und Medienrezeption. Sie sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik (angewandte Kommunikationspsychologie) sowie am Institut für Sozialwissenschaften (Politikwissenschaft) der Universität Koblenz-Landau.



[1] „Twitter search intends to bring you closer to content most relevant to you. Our results are refined to combat spam and increase relevance to provide the best possible search experience “ (https://support.twitter.com/entries/66018)


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